Als Lily eine lustige Geschichte schreiben wollte

Immer wenn Lily schreibt, bekommt sie diesen völlig entrückten Gesichtsausdruck. Wenn sie überlegt starrt sie dann Löcher in die Luft, egal wo sie sich befindet. So wie jetzt im Café.
„Lily?“ Ich fuchtele mit meiner Hand vor ihren Augen herum, die auf ein Bild an der Wand gerichtet sind, eine dieser kitschigen Fotographien, auf denen kleine Kinder küssender- oder schmusenderweise abgebildet sind, in schwarz-weiß mit Farbakzenten, meistens Rosen, wie auch in diesem Fall. Gar nicht Lilys Geschmack, und doch starrt sie schon seit fünf Minuten auf diese tricolore Scheußlichkeit. 

„Shht!“, macht Lily. „Ich denke.“
„Soll ich dir dabei helfen?“, biete ich an, denn meine Kaffeetasse ist mittlerweile leergetrunken, der Inhalt von Lilys bestimmt eiskalt geworden, und ich langweile mich.

Lily klopft mit ihrem Kugelschreiber, einem dieser billigen Plastikteile, die sie immer zigfach in Drogeriemärkten kauft, gegen ihre Schneidezähne. Lily hat bemerkenswert große Schneidezähne, die genügend Klopffläche bieten.
„Weißt du“, sagt sie schließlich, „ich stecke in einer Misere.“
„Aha“, erwidere ich.
Lily nickt wichtig.
„Und diese Misere stellt sich genau wie dar?“, frage ich nach einer Pause. Lily schreibt tagtäglich allen möglichen Kram, aber wenn man auf verbale Informationen von ihr wartet, lässt sie einen selbiges gerne tun. Lange.

Lily schaut mich an, mit diesem Blick der besagt, dass ich dies wissen müsste, wenn nicht ich, wer sonst. „Ich muss etwas schreiben“, sagt sie.
„Ach so“, entgegne ich. „Etwas?“
„Etwas Bestimmtes.“
„Etwas Bestimmtes?“
„Etwas Lustiges.“

„Ach so.“ Ich weiß nicht, was ich sonst erwidern soll. Es ist wie immer mit Lily. Erst erklärt sie nichts, und wenn sie es dann doch tut, verstehe ich kein Wort mehr.
Lily verdreht die Augen. „Ich muss etwas Lustiges schreiben“, erklärt sie nachdrücklich.
„So viel habe ich mitbekommen“, sage ich vorsichtig. „Und warum?“
„Damit du nicht mehr so deprimiert guckst.“
Das erstaunt mich. „Ich und deprimiert?“
„Genau du“, bestätigt Lily und tunkt einen Keks in ihren kalten Kaffee. „Seit wir hier sind, starrst du trübselig vor dich hin.“

Im Radio läuft ein Song aus einem Disneyfilm. Mir fällt nicht gleich ein, welcher. Ich trommle mit den Fingern auf dem Tisch den Rhythmus mit. Vielleicht, um mich zu beruhigen.
„Seit wir hier sitzen, kritzelst du in deiner Kladde herum und starrst Löcher in die Luft.“

Lily sieht mich mit großen Augen an. „Aber das habe ich doch nur für dich getan.“
„Für mich?“
„Ja, um dich aufzuheitern.“
„Aber… Lily, hörst du mir zu?“
Tadelnd schüttelt Lily den Kopf. „Also wirklich. Ein bisschen mehr Dankbarkeit könntest du schon an den Tag legen.“
„Warum soll ich für etwas dankbar sein, das du für mich tun willst, um etwas wieder gutzumachen, das du erst verschuldet hast?“
Lily runzelt die Stirn. „Was soll ich verschuldet haben?“
Ich gebe es auf.
„Weißt du was, Lily? Wenn du was Lustiges schreiben willst, dann verfass eine Selbstbeschreibung. Du bist nämlich ein Witz, ein absoluter Witz.“
Lily sieht mich erstaunt an. „Ich weiß nicht, worüber du dich so aufregst.“

„Wirklich nicht?“ Ich hatte mich auf meinem Stuhl vorgelehnt, doch jetzt lasse ich mich ob dieser geballten Ladung Naivität schnaufend wieder zurück gegen die Lehne sinken. Lily dreht den Kugelschreiber in ihren Händen. Sie schreibt mit links und irgendwie sieht alles, was sie tut falsch herum aus für mich. Wenn sie Brot schneidet habe ich Angst, dass sie abrutscht. Wenn sie am PC sitzt und Angst hat, eine „Maus-Hand“ zu bekommen, wie sie es ausdrückt, wechselt sie einfach die Hand. Dabei nimmt sie dann den Laptop und setzt ihn auf die andere Seite der Maus, anstatt die Maus auf der anderen Seite des Laptops einzustecken. Und wenn wir mal essen gehen, dann räumt sie vom Glas bis zum Brotkorb alles um, sodass sie es mit der richtigen Hand erreichen kann.
Irgendetwas scheint ihr eingefallen zu sein, denn sie schreibt wieder fiebrig in ihr dickes Schreibheft. Ihre Brille mit den runden Gläsern rutscht ihr beinahe von der Nase. Unseren kleinen Streit hat sie wohl schon vergessen. Ich drehe eine Serviette in den Händen, falte sie einmal, zweimal, und noch ein paar Mal, bis sie nicht mehr weiter zu knicken ist und sich von allein wieder auffaltet, wie eine knitterige Blume.

„Weißt du was, Lily“, sage ich.
„Hm“, macht sie abwesend.
„Du brauchst nicht zu schreiben, um eine lustige Geschichte zu schreiben. Bleib einfach Lily.“
Die zerknitterte Serviette sieht aus wie etwas Unanständiges. Ich streiche sie mit der Hand glatt und schaue Lily beim Schreiben zu.  

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